Videoüberwachung als Fakt, Fiktion & Mythos

Videoüberwachung als Fakt, Fiktion & Mythos

Kammerer, Dietmar 2008: Bilder der Überwachung, Frankfurt: Suhrkamp, ISBN 9783518125502, 284 S., 13 €.

rezensiert von Peter Ullrich

Dietmar Kammerer verfolgt mit seiner 2008 bei Suhrkamp veröffentlichten Dissertation einen spannenden und längst überfälligen Ansatz, Videoüberwachung einmal anders „zu lesen“ (um gleich die poststrukturalistisch-kulturwissenschaftliche Diktion des Autors aufzugreifen). Bisher wurden Kameras v.a. im polizeilichen und kriminologischen sowie im stadtsoziologischen und datenschützerischen Diskurs entweder als Heilsbringer gegen jedwede Form von Kriminalität oder Unordnung überschätzt oder aber als wirkungslos und zudem für die Freiheit bedenklich kritisiert. Die zweite (zudem auch empirisch deutlich besser fundierte) Position hatte immer mit dem Problem zu kämpfen, dass ihr rationalistischer Einwand gegen die Überwacher und deren Schein- und Pseudoargumente so machtlos blieb. Man kann das vorliegende Buch als einen Versuch verstehen, dieser Frage, warum es trotz allem so viel Videoüberwachung gibt, auf den Grund zu gehen (S. 84).Um dies beantworten zu können, untersucht Kammerer nicht nur die Videoüberwachungsinfrastukturen und -technik, die (oft ausbleibenden) Wirkungen der Aufzeichnungen und die Umgangsweisen mit den „Überwachungsbildern“, die in den Kontrollräumen von staatlichem und privatem Sicherheitspersonal betrachtet werden, sondern als Gegenstück dazu auch die „Bilder der Überwachung“. Darunter versteht er die kulturellen „Repräsentationen systematischer und technikgestützter Beobachtung, die in massenmedialer Zirkulation das kollektive Bewußtsein dessen prägen, was Überwachung ist und was sie kann.“ (S. 9)

Gerade in diesen kulturelle Vereinnahmungen, De- und Rekontextualisierungen, wo es bereichsspezifische Aneignungsweisen und von den konkreten, kriminalpräventiv gemeinten Kameras losgelöste Repräsentationsdynamiken gibt, liegt ein Schlüssel zum Verständnis der bleibenden Akzeptanz von Videoüberwachung. Diese Bilder der Überwachung begreift Kammerer mit Latour als Aktanten, als eigenständige Einflussfaktoren für die Aufrechterhaltung der Überwachungsgesellschaft.

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste und weitaus größere, welcher sich klassisch den Überwachungsbildern widmet, liest sich wie ein Kompendium zur Videoüberwachung. Dieser Teil ist ein wesentliches Plus des Buches, weil er einen sehr guten Überblick über die meisten wichtigen Facetten des Themas gewährt. Aber man fragt sich, wieso dieser Literaturüberblick (der mehr als nur ein Wiederbeten ist), im Vergleich zum genuinen Beitrag des Autors so umfangreich gehalten ist. Ideengeschichtlich bettet Kammerer die Kameras in die Einführung der Straßenbeleuchtung und die Verbrecherfotographie ein, die als Raumerfassung und Personenkontrolle das Paradigma der Videoüberwachung konfundieren (Kap. I). Kapitel II widmet sich der der Geschichte der „Normalisierung von Videoüberwachung“ (35) in Großbritannien und der Bundesrepublik. Dabei werden erste Brüche herausgearbeitet, denn wie die Diskussionen bspw. um die Beweiskraft von Bildern von Verkehrssündern zeigen, ist die Akzeptanz und Überzeugungskraft der Überwachungsbilder höchst volatil. Zudem wird die Entgrenzung der Videoüberwachung und des sie unterstützenden Diskurses in räumlicher, zeitlicher, funktionaler und organisatorischer Hinsicht herausgearbeitet, die einer eigenartigen Logik folgen: wenn Videoüberwachung versagt (und sie tut dies ständig), führt dies nicht zur Beendigung der Maßnahme, sondern zur Forderung nach mehr oder technisch hochwertigerer Technik. Das III. Kapitel widmet sich dem wissenschaftlichen Videoüberwachungs-Diskurs. Es schildert die diffusen Effekte des Placebos Videoüberwachung auf Kriminalität, die höchst widersprüchlichen Einstellungen zur ihr und ihren durch die BürgerInnen erhofften Wirkungen, die Einbettung in das Gesamt der Überwachungsgesellschaft (die immer Schutz verspricht und das mit Kontrolle und Klassifikation erkauft). Er bettet Videoüberwachung in allgemeinere Tendenzen ein, so die Wandlungen der Strafpraxis zur neuen Pönologie und zum Risikomanagment. Er schildert Videoüberwachung in der Stadt als konsumorientierte Homogenisierung des öffentliche Raumes und vielgepriesenen (illusionären) Standtortvorteil.

Noch einmal theoretischer wird dann das IV. Kapitel, in welchem aber Betrachtungen zum Sehen und zum Blick nicht gerade für klare Sicht bei den Leserinnen sorgen. Den Foucault’schen Panoptismus und seine Erweiterung durch Deleuze’ Kontrollgesellschaft erklärt Kammerer anschließend zum bis auf weiteres privilegierten theoretischen Zugang zur Überwachungsthematik. Dabei tangiert er Alternativen wie die „surveillant assamblages“ (Haggerty/Ericson) nur erstaunlich nebenbei und fragt auch zu wenig, ob denn die sehr plausiblen subjektivierenden Wirkungen des Panopticons tatsächlich so auftreten, wie die Theorie annehmen lässt.

Die Anforderungen an die Subjekte sind in der neoliberalen Vielfalt ohnehin immer unabgeschlossener, so kommt es nicht auf spezifische Herrschaftseffekte an, sondern auf die Präsenz der Herrschaft an sich in Form von Überwachungstechnik.

Wieder zu den komplexen, unintendierten, paradoxen und absurden Effekten führt das V. Kapitel, welches den „Kontrollraum als Ort überwachender Praxis“ (143) analysiert. Es geht hier bspw. um die Einflüsse des menschlichen Faktors und das in der menschlichen Unvollkommenheit wurzelnde Paradox, dass weniger Kameras (die besser überwacht werden) mehr Prävention bedeuten. Kammerer beschreibt auch die Verhaltensänderungen von Polizisten unter Überwachung, ihre Routinen bei der Verdachtsproduktion und die tatsache, dass aus den meisten auffälligen Beobachtungen meist gar kein polizeiliches Eingreifen resultiert. Raum bekommt auch die fragile Beweiskraft der Bilder und die Problematik, dass mittlerweile so viele Bilder produziert werden, dass sie durch die schiere Datenflut oft kaum noch sinnvoll für Polizeiarbeit seien. Da hilft auch keine Softwareunterstützung, zudem auch die Technik keineswegs neutraler als beobachtende Polizeikräfte ist – sogar Gesichtserkennungssoftware hat einen ethnic bias.

Ab dem VI. Kapitel geht es um die eigentlichen „Bilder der Überwachung“. Zu denen gehören mediale Representationsschemata wie das symbolische Auge (Gottes), aber auch die Kamerabeschilderungen (zwischen Warnung und Versprechen). Das VII. Kapitel, welches den Spuren der Videoüberwachung in der Populärkultur folgt, findet sich möglicherweise die Kernaussage des Buches. „Was sie tatsächlich zu leisten vermag, deckt sich weder mit dem, was ihre Propagandisten erwarten, noch mit dem, was Kritiker an ihr fürchten.“ (253).Videoüberwachung, so Kammerer mit Bezug auf R. Barthes sei ein Mythos und als solcher abgelöst von realen Begründungen und einer rationalen Erörterung schwer zugänglich. Die Macht des Mythos ist nicht zu brechen. Videoüberwachung ist so in die Menschen eingedrungen, dass es nicht mehr um ihre Wirkungen geht. Ihr Erfolg liegt darin, immer etwas zu tun zu haben, was auch immer es sei. Dies liegt möglicherweise daran, dass sie als Alltagspraxis, Alltagswissen und Symbol viele Lebensbereiche durchdringt. Sie findet sich – kritisch oder affirmativ – verwendet in Werbung, Popsongs, Fernsehunterhaltung, Kinofilmen und der moralisierenden Bearbeitung traumatischer Verbrechen (Mord an Jamie Bulger, 9/11). Die lose und unsystematische Aufzählung vieler Beispiele an dieser Stelle, die nach beliebig erscheinenden Methoden mal mehr, mal weniger ausführlich interpretiert werden, lässt aber viele Fragen offen.

Andererseits ist das nicht verwunderlich, den ein Kapitel zu den Forschungsmethoden und zur Art der Quellen und ihrer Interpretation sucht die geneigte Leserin vergebens. So ist denn auch das VIII. Kapitel zu den Taktiken der Überwachten und der counter-surveillance eher eine anekdotische Sammlung von Mitteln und Wegen des Protests und Unmuts, die Kammerer aber zu dem Allgemeinplatz-Fazit führen, dass auch die Gegentaktiken nicht aus dem Dispositiv der Überwachung entkommen.

Doch ein eigentliches Fazit für das Buch fehlt. Das nur siebeneinhalbseitige Schlusskapitel wiederholt das eine oder andere, bringt noch einmal neue Literatur ins Spiel und lässt zusammenfassende theoretische Erkenntnisse vermissen. Kammerers wichtigste Erkenntnis scheint, „dass die realen Konsequenzen von Videoüberwachung weder beschwichtigend ignoriert noch panisch dramatisiert werden dürfen: Beides spielt ihr in die Hände, verstärkt ihre Effekte.“ (352)

Manchmal recht dünn ist das Buch auch bei den Nachweisen für pauschale Ausagen (bspw. S. 238: „durchgehend … Gewöhnungseffekte“); einzelne Einschätzungen oder Meinungen werden als allgemeingültig präsentiert („Kriminelle zeigen keine Furcht vor den elektronischen Augen, sondern winken selbstbewusst in die Kameras“ – auf der empirischen Basis eines Vorfalls). Bei aller Kritik an den Paradoxa des mythischen Versuches mit Kameras Kriminalität zu bekämpfen,wird auch die Frage nach den Bedingungen der Produktion von Kriminalität, gegen die dann mittels Videoüberwachung vorgegangen werden soll, außen vor gelassen.

Trotz all dieser Mängel ist das Buch ein höchst lesenswerter Beitrag, der eine ungewohnte Perspektive auf Videoüberwachung einnimmt, indem er auf die kulturellen Eigendynamiken der „Bilder der Überwachung“ und ihre immense Bedeutung für die Überwachung selbst hinweist.

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